Tonne 17

17.9.2020 – Wir fahren nicht.

Die Entscheidung ist gefallen  

Wir fahren nicht. 

Erste Reaktionen aus dem Freundeskreis reichen von „Gott sei Dank!“ bis  „Also das hätte ich nicht erwartet“ 


Für uns ist es nicht Gott sei Dank, aber erwartet haben wir es seit einiger Zeit zunehmend schon. Zunächst sind da die steigenden Fallzahlen in Frankreich und Spanien, ein Menetekel auch für alle anderen Regionen der Welt. Einreisen nur  nach Coronatest oder Quarantäne (und will man das?), oder später auch wegen partieller Lockdowns einfach gar nicht mehr? (die Todesrate steigt wieder stark, und erst unter dem Eindruck von Kühllastern und Feldlarzaretts wird man sehen, wie die Politik wirklich reagiert). Schon hier, in Carloforte, hätten wir uns testen lassen müssen, wären wir nur wenige Tage später angekommen. Mehrere frustrierte Segler kamen in den letzten Tagen an, erfuhren von der Testpflicht, und reisten nach einer Stunde wieder ab – denn im Südwesten Sardiniens gibt es gar keine “Testmöglichkeiten in Wassernähe”… je nun, wer Großes will, muss natürlich Vieles auf sich nehmen. Wären überwindbare Einreise-Erschwernisse auf dem Weg nach Westen der einzige Grund, hätten wir ja auch nicht klein beigegeben, aber das war leider nicht so:


Um als bloody bluewater beginners auf dem Atlantik nicht “ganz alleine” zu sein, wollten wir eines der im Durchschnitt 250 Boote werden, die seit 30 Jahren jährlich mit der so genannten “ARC” (Atlantic Rally for Cruisers) organisiert über den Atlantik segeln. Nun hat sich die Teilnehmerliste der ARC jedoch von über 250 Crews im Mai auf aktuell knapp 70 Crews reduziert, so dass wir sogar erwarten, dass die ARC 2020 durchaus auch gar nicht mehr stattfinden wird. Hinzu kommt, dass sämtliche Events, Seminare, Informationsveranstaltungen und Partys, die von den ARC-Veranstaltern organisiert werden, und die die ARC zu einem großen Event machen, den Coronaregeln mittlerweile ganz zum Opfer gefallen sind, resp. nur remote stattfinden, und somit der soziale Aspekt leider ganz verloren gegangen ist. Und jede Crew muss sich sieben Tage vor der Abreise bereits auf ihrem Boot isolieren… und zusätzlich 48h vor dem Startschuss noch testen lassen.

 

Außerdem: Hin und wieder braucht das Schiff ja einen Hafen – oder die reisende Crew… nun wird es aber entlang der europäischen Küsten in Richtung Kanaren gerade eng, weil auf Grund von vielen Covid-19-Beschränkungen, sowie zögernden und reise-abbrechenden Crews (die wie wir aber natürlich bereits unterwegs sind) die Marinas anfangen “vollzulaufen”. Jedes normale Jahr reisen ca. 2.000 Yachten von Europa aus in die Karibik – die ARC-Teilnehmer sind also nur ein kleiner Teil, und die “Storno”-Quote wird überall ähnlich hoch sein. 

Sollten wir nun die Reise zunächst fortsetzen, die Leinen in Richtung Gibraltar loswerfen, gäbe es später wettertechnisch kaum noch ein sinnvolles Zurück nach Italien – ein Hafen in Festland-Spanien, Portugal oder auf den Kanaren müsste her. Und dort noch einen sicheren und professionell betriebenen Hafen zum Überwintern zu finden, wird zum echten Glücksspiel. Wir wurden hier gewarnt, dass die üblichen winterfesten Marinas bereits voll sind – für unseren bisherigen Hoffnungsanker Lagos konnten wir das leider sofort validieren. Und mit Bellariva dann Ende Oktober über die Biskaya in die Nordsee zu segeln… nunja. Irgendwie sehen wir uns da (noch?) nicht. 

 

Das gleiche Problem haben wir zudem auch in der Karibik, mit viel schlimmeren Auswirkungen. Wir hätten das Schiff dort für einige Monate zurückgelassen, in einem Hafen, um es dann bis spätestens zum Beginn der Hurrikansaison wieder nach Europa zu segeln. D.h.,  die Crew für den Rückweg MUSS die Möglichkeit haben, wieder in die Karibik einreisen zu dürfen – oder ein Liegeplatz in einem so genannten Hurricane Hole müsste gefunden werden! Diese Probleme hätten dann aber nicht nur wir, sondern haben auch ganz konkret jetzt immer noch tausende Bootseigner, die bereits im letzten November aufgebrochen waren. Glaubwürdigen Berichten zufolge ist die Karibik schlicht “voll”, in den sturmsicheren südlichen Gebieten liegen aktuell rund 5.000 überwiegend verwaiste Boote (obwohl dort die maximale Kapazität auf rund  3.000 Plätze geschätzt wird), und warten auf ein geeignetes Rückreise-Zeitfenster – im Frühjahr 2021, so die Hoffnung…. Das x-tausendste Boot an einem schlecht vor Hurricanes geschütztem Platz weit weg vom Heimathafen zu sein, lässt große Sorgen einfach die ganze Zeit mitreisen. Hier war für uns ganz klar die Reise-Voraussetzung, dass sich der Stau auflöst, und im Frühjahr 2021 sicher mit einer möglichen Rückreise gerechnet werden kann. Angesichts der 2. Welle und erster Karibikinseln mit erneuten Beschränkungen, gehen wir davon nicht mehr zu 100% aus. 

Ab der Straße von Gibraltar wäre es für uns um einiges aufregender geworden, denn dann hätten wir zum ersten Mal Atlantikwasser unterm Kiel gehabt. Seglerisch ist  das Mittelmeer zwar zu bestimmten Zeiten durchaus ebenso  anspruchsvoll wie die „Barfußroute“ von den Kanaren in die Karibik (die heißt ja nicht umsonst so), aber dort ist es eben ein Ozean, ein offenes Weltmeer, das nächste Land elend weit weg, und nicht nur so ein Mittelmeerchen. 18-21 Tage wären wir auf dem Wasser gewesen, bis wir auf St. Lucia angekommen wären. Als Neulinge auf dem Ozean ist es dann nicht schön, wenn im Hinterkopf immer noch zusätzlich eine zu bewertende, unklar-eskalierende Pandemie-Lage mitreist, und zur ständigen Vorbereitung etlicher “Plan-B”s zwingt.

 

Die Südküste Sardiniens, eingetaucht in die goldene Septembersonne, hat uns wahrlich tröstend empfangen und umfangen, und alles getan, damit es uns nach der Entscheidung nicht zu schwer ums  Herz wird: Wir werden nun zunächst hier überwintern, wahrscheinlich in Arbatax, oder in Villasimius.   

In der Saison 2021 geht es dann, so die aktuelle Planung, nach Portugal. Und im Sommer 2022 über Madeira zu den Kanaren. Die Anreise wird also auf 2 Jahre verteilt, und zur intensiven “Schnupperstunde” mit dem Atlantik. Außerdem werden wir das  Ausbildungsprogramm auf allen Positionen forcieren, und so die Zeit sinnvoll nutzen. bis es 2023 erneut losgehen kann. Alles in allem ein runder Plan und kein Schiffbruch.